Obwohl Kemal in der Grundschule ein erfolgreicher Schüler war, hat er die Prüfung für das staatliche Internat nicht bestanden.
[Kemal unterhält sich mit seinem Freund Michael:]
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«Eines Morgens beim Frühstück brachte ich meine Eltern ganz durcheinander. Ich schlug etwas Unerwartetes vor.
Ich sagte. „Schickt mich zur Mittelschule in die Stadt!“»
«Das war aber gegen die Entscheidung deiner Eltern?»
«Ja schon. Aber ich hatte meinen Vorschlag argumentiert. Es war nicht sicher, ob ich die Prüfungen danach bestehen würde. Das wäre dann für mich ein verlorenes Jahr gewesen.»
«Und wie haben sie reagiert?»
«Zuerst konnten sie gar nicht reagieren. Sie aßen still weiter, ohne mir eine Antwort zu geben.
Das war für sie eine sehr schwere Frage. Sie fingen an, Tag und Nacht darüber nachzudenken. Mit mir sprachen sie kein Wort darüber, aber ich spürte, dass sie ständig am Abwägen waren, welchen Weg sie nun nehmen sollten. Den sicheren oder den, der für sie unmöglich zu finanzieren war.
Mit der Zeit verstand ich ganz genau, dass das für sie nicht nur eine Kostenfrage, sondern auch eine Frage des Mutes gewesen war. In der Geschichte unseres Dorfes war es unbekannt, dass jemand in der Stadt die Mittelschule besucht hatte. Sie hatten Angst vor etwas Ungewöhnlichem. Für die ganze Dorfgemeinschaft, die eine große Rolle bei der Entscheidung meiner Eltern spielte, war das fremd.
Sie überlegten auch, wie es wäre, wenn sie mich trotzdem in die Stadtschule schicken würden. Wenn ich als ein Dorfjunge in der Stadtschule nicht zurechtkommen und sitzen bleiben sollte. Wenn ich in der Schule keinen Erfolg aufweisen konnte und sie ohne das Diplom verlassen musste. Was wäre dann!
Eines Morgens, wieder am Frühstückssofa, fragte meine Mutter meinen Vater. „Wie wäre es, wenn wir meinen Bruder Veli fragen würden?“
Als ich diesen Satz hörte, bekam ich Gänsehaut. In mir funkte etwas, als ob ich spürte, dass meine Wünsche doch in Erfüllung gehen würden. Ich fing an, mich wieder wahnsinnig zu freuen, ohne jemandem etwas davon zu erzählen. Nachts in meinem Bett beobachtete ich die Sterne mit großer Hoffnung und großem Optimismus. In jeder Situation suchte ich etwas Positives. Alle Geschehnisse interpretierte ich dahingehend, dass meine Hoffnungen wahr werden würden. Dabei war alles noch ganz unklar.
Am nächsten Tag machten wir uns auf den Weg nach Demiryurt. Wir kamen bei meinem Onkel Veli zu Hause an. Er selbst war nicht da, aber seine Frau.
„Er ist heute morgen nach Karahalil gegangen, müsste aber schon längst wieder da sein. Kommt, setzt Euch!“ sagte Hamide Yenge, nachdem sie uns herzlich willkommen geheißen hatte. Sie führte uns ins Gästezimmer und ging zurück in die Küche. Sie musste auf die Abendsuppe aufpassen, die sie vor zehn Minuten aufgesetzt hatte, damit sie nicht überlief.
Mein Onkel Veli ist ein kluger Mann. Damals betrieb er in seiner Freizeit Tierhandel. Er kaufte eine Kuh, ein Büffeltier oder ein Pferd in den Dörfern, brachte es in die Stadt und verkaufte es dort auf dem Tiermarkt. So verdiente er nebenbei immer Geld. Auch an diesem Tag war er zum Handeln nach Karahalil gegangen.
Wir saßen zu dritt im Gästezimmer. Das war das Zimmer meines Urgroßvaters mütterlicherseits. Mehmet Aga. Der blinde, alte Mann, der immer mit einem Handstock ging, hatte in diesem Zimmer gelebt. Ich sah ihn noch vor mir, wie in meiner Kindheit, als ich mit meiner Mutter meine Großmutter besuchte.
In der frühen Abendzeit wechselten meine Eltern leise flüsternd ein paar Worte. Ich betrachtete den Einbauschrank, die Blumen, die in Rot, Grün und Gelb in einfacher Form auf den Schrank gemalt waren. Auf dem Regal standen alte Vasen, kleine Krüge, ein paar Kupferteller. An der Wand zur Treppe war eine öffnung, wo man ein Stück Brett als Fensterbank angebracht hatte. Darauf stand die schöne Petroleumlampe, die ich immer wegen ihrer ästhetischen Form bewunderte. Sie stammte noch aus der Zeit meines Urgroßvaters. Er war jahrelang Gemeindevorsteher des Dorfes und dadurch ein in der Umgebung bekannter Mann gewesen. Der Mehmet Aga.
Hamide Yenge trat mit einer Flasche Petroleum in der Hand ins Zimmer und wollte die Lampe anzünden. Sie war eine sehr gesprächige Frau. Sie erzählte tausend Sachen im Stehen. Ich hörte dabei die Tiere im Hof brüllen.
„Allah! Die Kühe sind auch schon da. Ich muss sie in den Stall führen. Kamil, Bruder, kannst du nicht die Lampe anzünden?“ fragte sie meinen Vater. Mein Vater übernahm die Arbeit, und sie ging nach unten.
Meine Mutter stand auf, nahm die Petroleumlampe und brachte sie meinem Vater, nachdem sie deren Glas rausgeholt hatte.
„Das ist aber sehr schmutzig geworden!“ sagte meine Mutter. Sie ging in die Küche, um ein Tuch zu finden. Mein Vater füllte das Lampengehäuse mit Petroleum, während ich das Glas mit meinem Atem anhauchte... Meine Mutter kam mit einem Tuch wieder zurück...
Im dumpfen Licht des stillen Zimmers hörten wir eine freundliche Stimme. „Oh! Wer ist zu uns gekommen? Wer ist zu uns gekommen? Kamile! Schwester!“
Ich erkannte sofort die Stimme, während er die Treppen hinaufstieg! Der Flur war schon etwas dunkel. Doch wir sahen schon den netten Mann mit der freundlichen Stimme. Das war Onkel Veli...
Er zog seine Schuhe im Flur aus. Wir alle standen auf, bevor er das Zimmer betrat. Zuerst küsste meine Mutter die Hand meines Onkels, und sie umarmten sich. Dann schüttelten sich die zwei Männer die Hände, und zuletzt küsste ich meinem Onkel auch die Hand...
Nach dem gemeinsamen Abendessen fing meine Mutter beim Teetrinken an. „Weißt du, warum wir gekommen sind, Aga?“
Mein Onkel machte ständig Scherze. „Natürlich weiß ich, Schwester! Ihr habt keinen Tee mehr zu Hause und wollt bei uns kostenlos Tee trinken!“
Wir lachten zwar alle zusammen, konnten aber eigentlich mit solchen Späßen nicht viel anfangen. Mein Vater dagegen erwiderte in einem sanften Ton und mit vorsichtigen Ausdruck. „Lass uns die Späße beiseite, Aga. Wir sind gekommen dich nach etwas Wichtigem zu fragen...“
Onkel Veli wurde kein bisschen ernster. Er fragte meine Mutter. „Ist etwas Schlimmes passiert, Schwester? Erzähle!“
„Nein, nein. Nichts Schlimmes!“
Sie sah unsicher aus. Sie zögerte zuerst und schaute dabei einmal meinen Vater und einmal Onkel Veli an. Wir alle wurden ganz Ohr. Sie fasste ihren ganzen Mut zusammen und versuchte nun unseren Wunsch vorzutragen. „Agabey, du weißt, Kemal hat die Prüfung nicht bestanden. Sein Lehrer sagte zwar immer, dass er sein bester Schüler sei. Aber..!“
Onkel Veli unterbrach seine Schwester. „Schwester, das ist für mich keine überraschung. Das wusste ich schon. In unserer Zeit geht alles nur noch mit Beziehungen. Mit Geld. Wie sollen unsere Kinder sich bei den Kindern der Reichen behaupten! Ich weiß, dass mein Neffe sehr intelligent ist, aber das reicht doch für so was nicht. Es ist sehr schade ! Aber, was kannst du machen?“
Ich sah dabei, dass meine Eltern sich sehr betroffen fühlten. Mein Vater sprach kein Wort. Er hörte nur zu. Auch ich sprach nicht.. Nach einer Schweigepause unterbrach meine Mutter wieder die Stille. „Aber, Aga, Kemal will in die Mittelschule gehen.“
Mein Onkel griff wieder das Wort. „Masallah! Masallah, mein Junge! Sehr mutig, sehr mutig. Und wann beginnt die Schule?“
„In drei Wochen!“ antwortete ich.
„Sehr schön! Sehr schön, mein Junge! - Schwester, Schwager, gebt dem Jungen eine Chance. Ihr werdet es bestimmt nicht bereuen.“
Mein Vater schaltete sich ein. „Agabey, wir wollen ja. Aber wir haben Angst, dass wir das finanziell nicht schaffen. Du kennst unsere Situation“.
Meine Mutter stellte die wesentliche Frage. „Deswegen wollten wir dich fragen, ob Kemal vorübergehend, bis wir eine andere Möglichkeit finden, bei euch, im Haus in der Stadt wohnen könnte.“
Onkel Veli warf einen kurzen Blick auf mich und lächelte. Dann sprach er fröhlich. „Ach, Schwester! Was für eine Frage ist das! Natürlich kann er bei uns wohnen, so lange er will! Das Haus gehört nicht uns, sondern euch!“
In mir explodierte eine „Bombe der Freude“! Ich sah mich plötzlich in einem dunklen Anzug mit Krawatte und dem schönen Schülerhut. Vor meinen Augen entstand das Bild des feinen Jungen, den ich bei meiner ersten Stadtfahrt vom Pferdekarren aus gesehen und dem ich mit großer Begeisterung zugeschaut hatte.
Bei der Unterhaltung „fraß“ ich alle Worte auf! Ich wollte nicht, daß sie zu Ende ging. Der Tee schmeckte auch viel besser als sonst.
Es wurde dann ziemlich spät. Fröhlich gestimmt machten wir uns auf den Heimweg...»
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